Aus der online-Ausgabe des SPIEGEL vom 11. Oktober 2006...:
PATCHWORK-FAMILIE
Mama liebt jetzt Andrea
Von Marc Röhlig
Ihren Vater vermisste sie kaum, dafür waren die Lesbenparties viel zu spannend. Katharina Reich, 19, wuchs in einem Frauenhaushalt auf und half ihrer Mutter, ihre Liebe zu Andrea zu entdecken. Das Problem dabei war bloß: Wie würden die Klassenkameraden reagieren?
"Ich bin froh, dass mein Leben genau so verlaufen ist. Es war nicht immer einfach. Aber wäre irgendwas anders gekommen, würde mir heute auch viel von meinem Mut fehlen."
Solche Sätze klingen eigentlich nach müden Männern, die sich ihrer Jugend erinnern. Schnauzer, Falten und wabernde Zigarettenschlieren würden prima dazu passen. Doch in Katharinas Gesicht findet man keine Falten und keinen Schnauzer. Es ist das hübsche, frische Gesicht einer 19-Jährigen.
Katharina hat im vergangenen Jahr ihr Abitur gemacht, begann im Januar darauf ein Volontariat bei ihrer Lokalzeitung und ist gerade daheim ausgezogen. Ihr altes Zuhause, das war eine gemütliche Wohnung unweit des Jenaer Stadtkerns. Sie lebte dort mit drei Frauen: mit ihrer Mutter, ihrer jüngeren Schwester Marie und ihrer zweiten Mutter. Katharina Reich erlebte ihre Pubertät mit lesbischen Eltern.
"Angefangen hat das mit meiner Mutter, da war ich 14 Jahre alt. Sie schaute immer 'Aimee & Jaguar', einen Film über zwei sich liebende Frauen im Zweiten Weltkrieg. Wenn ich aus dem Haus ging: der Film lief. Wenn ich abends wiederkam: Der Film lief immer noch. Selbst beim Bügeln flimmerte der Streifen über die Scheibe. Und stets seufzte meine Mutter bei den Kussszenen.
Ich habe sie dann gefragt: 'Mutti, kann es sein, dass du auch auf Frauen stehst?' Und da hat sie genickt. Schockiert hat mich diese Antwort nicht. Meine Mutter und ich haben uns schon immer alles erzählt. Das wurde umso wichtiger, als Mutti ihr Interesse für Frauen entdeckte."
Katharina sitzt im Wohnzimmer mit ihren zwei Müttern. Am Jenaer Abendhimmel hängen graue Wolken, im Haus flackern Teelichter. Mutter Kathrin bringt Cappuccino in bauchigen Tassen, ihre Freundin Andrea nimmt die Hündin Cora auf ihren Schoß. Dass sich Kathrin und Andrea gemeinsam in die Couch kuscheln können, haben sie Katharina zu verdanken, sagen sie.
Mutter und Tochter im Dating-Portal
Denn nach dem Coming Out setzte sich Kathrin mit ihrer Mutter vor den Computer. Beide stießen im Internet auf ein Partnerportal für Lesben. Mutter Kathrin lernte als "Rotkäppchen777" schließlich "Twylight" kennen. Viele E-Mails folgten, die Kathrin immer zusammen mit ihrer Tochter auswertete - "egal zu welcher Tages- und Nachtzeit".
Twylight arbeitete genauso wie Rotkäppchen777 als Krankenschwester in Jena. Im selben Krankenhaus, die eine in der Bauch-, und die andere in der Kieferchirurgie. Vor einer langen Nachtschicht fasste sich Rotkäppchen777 ein Herz und einen Korb mit Rotwein und Kuchen, ganz wie ihre Namensvetterin im Märchen. Anstelle der Großmutter lernte sie an jenem Abend die Frau hinter Twylight kennen. Twylight wurde zu Andrea, Andrea zur großen Liebe, die nach drei Monaten als zweite Mutter einzog. Katharina war damals 14, ihre kleine Schwester neun Jahre.
"Die Veränderung fiel uns nicht schwer. Andrea passte wunderbar in unsere kleine Familie. Seitdem muss ich aber meinem Freundeskreis beibringen, dass ich homosexuelle Eltern habe. Das geht am besten ohne Umschweife. Ich dachte mir immer, wenn du selbstbewusst damit umgehst und die Liebe zwischen deinen Müttern nicht in Frage stellst - dann akzeptiert das auch jeder andere um mich herum.
Wenn ich also eine Freundin mit zu mir nehmen will, kündige ich die ungewohnte Überraschung vorher beiläufig an. Ich sage dann etwa einen Tag vorher: 'Ach übrigens, meine Mutti lebt mit einer Frau zusammen. Die lieben sich.' Zuerst sind meine Freunde total baff, dann finden sie ihre Sprache wieder und sagen als erstes 'Cool'.
Der Alltag in einer Regenbogenfamilie ist wie in jeder anderen Familie auch, mit Streitereien und Versöhnung, mit Kuschelabenden und Haushaltspflichten. Ich bin nicht besser oder schlechter aufgewachsen als Kinder aus 'normalen' Familien. Besser noch: Wenn es Samstagabend war wollte mich kein Vater um Zehn im Bett sehen.
Als Teenager auf Lesbenparties
Stattdessen hatte ich zwei Mütter, die sich und ihr neues Leben auf unzähligen Lesbenpartys entdeckten. Und ich war oft genug mit dabei. Dort habe ich festgestellt, dass das klassischste aller Klischees ist totaler Quatsch ist, zumindest bei meinen Müttern: Weder Kathrin noch Andrea sind 'männliche Lesben' - beide sind total Frau und haben auch keine Ahnung von Akkubohrern. Aber wer wie ich lange und blonde Haare hat, ist eindeutig nicht lesbisch sondern eine 'Hete'. Da hatte ich schon Angst, dass mich alle schief angucken. Richtig ausgegrenzt habe ich mich aber nicht gefühlt. Denn anders als Heteropartys laufen Feiern von Lesben und Schwulen sehr witzig und locker ab."
Drei feste Beziehungen hatte Katharina in den letzten Jahren, alles Jungs. Mit 14 - noch nicht erwachsen, schon kein Kind mehr - verliebte sie sich allerdings in eine Klassenkameradin. Beide teilten erste Versuche, eine kurze Affäre und wichtige Erfahrungen. Lesbisch ist sie nicht. Doch dann schiebt sie einen trotzigen Satz hinterher: "Wenn die Gefühle da sind, spielt das Geschlecht keine Rolle."
In ihre Studentenwohnung hat Katharina ihre gesamten Erinnerungen mitgenommen: Zwei große Fotoalben, prall gefüllt mit Zeugnissen einer fröhlichen Jugend. Unter "Meine Familie" reihen sich glückliche Momente von Mutter Kathrin und Freundin Andrea. Aber auch ein Mann ist zu finden, mit Tochter: Der Vater ihrer besten Freundin Peggy. Uwe war eine Art Ersatzvater für Katharina.
Die Fakten über ihren eigenen Vater sind schnell erzählt: Die Eltern lernen sich kennen, er ist 24 und sie ist 17. Zwei Jahre später wird Katharina geboren. Sie lebt mit ihrer jungen Mutter in Jena, er in Berlin - ein Wochenendvater. Die kleine Schwester Marie kommt dann fünf Jahre später. Von da an kommt der Vater nicht mehr aus Berlin. Katharina sieht ihren Vater zur Jugendweihe mit 14 Jahren das erste Mal wieder.
"Bis dahin hatte ich kaum Erinnerungen an ihn, eigentlich kannte ich ihn gar nicht richtig. Kinder brauchen Liebe, aber nicht unbedingt vom Vater. Ich bin sehr, sehr glücklich, dass ich bisher mit zwei Müttern zusammengelebt habe. Vielleicht hätte ich mir irgendeine Männerrolle in meiner Jugend gewünscht, keinen Vater, aber einen Onkel oder einen großen Bruder.
Vor einem Jahr habe ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen. Ich habe ihn spontan in Berlin besucht, stand vor seiner Tür, habe geklingelt. Dann machte er auf, in Jogginghose und Hemd, die DDR-Tapete hing noch an der Wand. In dem Augenblick tat er mir leid."
http://www.spiegel.de/schulspiegel/lebe ... 55,00.html