Northstar hat geschrieben:
Ich habe versucht mich durch die unübersichtliche Internetseite durchzukämpfen und weiß nicht mehr als vorher.
Öff! Öff! oder vom Leben nach Erlöserart
Anderthalb Autostunden nördlich von Berlin versucht ein Mann dieser "lieblosen Überfluss-Welt" zu kündigen
24.12.2005
Magazin - Seite M03
Dirk Brauns
Sonntagvormittag in dem Dreihundert-Seelen-Dorf Dargelütz bei Parchim. Jürgen Wagner, den sie hier "Öff! Öff!" oder den "Ghandi von Mecklenburg" nennen, repariert gerade ein altes Fahrrad. Rostiges Metall in der Hand, steht er vor einer Bauernkate und verschenkt ein herzensgutes Lächeln. Was der bärtige Vierzigjährige als erstes mitteilt, ist bezeichnend. "Lass mich bitte noch meine Berufs- oder Berufungskleidung anlegen." Fünf Minuten später hat sich der Fahrradmonteur im blauen Kittel in eine Art norddeutschen Jesus verwandelt. Bodenlang wallendes Gewand. Fellweste. Sandalen und Holzkreuz am langen Band. Als zynischer Städter muss man ein Grinsen unterdrücken. Doch Wagner, dieser vermeintliche Spinner, steckt voller Überraschungen. Mit freundlichem Nachdruck weist er darauf hin, dass die BILD-Zeitung noch eine Woche das Exklusiv-Recht an seiner Geschichte besitzen würde, "insbesondere, was mein Leben in der Erdhöhle und die Wild-Rohkost-Ernährung anlangt". Wow. Für jemanden, der seit Jahren ohne Geld, Zeitung, Radio, Strom, fließend Wasser und beinah den ganzen Rest unserer gesellschaftlichen Übereinkünfte eine "alternative Existenz" anstrebt, ist das ein bemerkenswert professioneller Umgang mit Medien.
Jürgen Wagner hat die "Schenker-Bewegung" begründet, eine kleine Gruppe von Aussteigern, die "mit anderen Menschen nur Geschenke austauschen und gewaltfrei teilen möchten, um eine insgesamt verantwortliche Lebensweise zu finden."
In herrlich warmer Oktobersonne sitze ich mit dem "freischaffenden Priester" vor der Schenker-Zentrale, dem so genannten "Haus der Gastfreundschaft". Das Anwesen wurde ihm 1994 von einem Sympathisanten kostenlos überlassen. Seitdem verwirklicht Wagner, der sich mehrfach als "Gesamtkunstwerk" bezeichnet, hier seine Vorstellung von Sozialarbeit. Ob Aussteiger, Obdachloser, Alkoholiker oder psychisch Kranker - in dieser "bedingungslosen Zufluchtsstätte" werden prinzipiell alle aufgenommen und können am Leben ohne Staat teilhaben. "Man wird nur glücklich, wenn man glücklich ist", hat jemand mit Kugelschreiber an die Eingangstür geschrieben. Wagner erklärt die drei Quellen der Schenker-Verpflegung: Reste von Supermärkten, Spenden sowie selbst gesammelte Kräuter und Wildfrüchte. Dazu hämmert aus dem gegenüberliegenden Haus Techno-Musik und auf der Alten Dorfstraße quält ein Halbwüchsiger sein knatterndes Moped. Einerlei - das gewöhnliche Dargelütz wird in Gegenwart des Berufenen rasch Nebensache.
Er schildert, wie ihn mit dreizehn der "innere Blitzschlag" traf. Es geschah dort, wo er aufwuchs, in Gladbeck im Ruhrgebiet, beim Sonntagsspaziergang mit dem anderthalb Jahre jüngeren Bruder. Während seine Mutter, Hausfrau, und sein Vater, Bankangestellter, zu Hause das Mittagessen vorbereiteten. "Wir trotteten nebeneinander her und mir wurde klar, dass ich an dem für mich vorgesehenen Ellenbogenkampf nicht mittun wollte. Plötzlich stand mir der Wert völliger Gewaltfreiheit klar vor Augen. Es war ein pubertärer und zugleich existentieller Gedanke. Kann es sein, dass wir am Wichtigen vorbei leben?"
Der auffordernd freundliche Blick des Idealisten vermag einen wahrhaft zu treffen. Hinter Jürgen Wagner, der seinen Personalausweis an den Bundespräsidenten sandte und lieber mit der "neuen kommunikativen Leerstelle" Öff! Öff! angesprochen werden möchte, liegen drei Jahrzehnte intensiver Sinnsuche. Gegen den kollektiven Eiertanz um Geld, Verträge und Gesetze und für "die radikale Konsequenz gewaltfreien Teilens" protestierte er anfangs mit selbst gemalten Plakaten. Nach dem mit 1,0 bestandenen Abitur studierte er Theologie und Philosophie, verfasste eine Magisterarbeit über sein Vorbild Mahathma Ghandi und pilgerte dann, auch weil die Kirche einem Freidenker wie ihm kein Pfarramt überlassen wollte, durch Europa.
Frucht dieser Jahre war die Erkenntnis, dass die meisten Menschen nur Kurzgeschichten im Kopf haben. Unverbunden. Zufällig. Kraftlos. "Aber wie können wir ohne roten Faden leben?!" Öff! Öff! reißt die Augen auf. Mehr noch als seine Antworten fesseln seine Fragen.
Es wäre feige, das Treffen nicht auch als Prüfung zu verstehen. Wer ist man neben diesem eigensinnigen Tausendsassa? Der faule Kompromiss in Person? Öff! Öff! streicht sich durch den Bart und schmunzelt. Trotz seiner Unbedingtheit wirkt er nicht rechthaberisch. Seine Ideen entfalten sich entspannt. Dass sie bei aller Nächstenliebe stets um ein kolossales ICH zu kreisen scheinen, verwundert nicht. Außenseiter dieses Kalibers würden ohne schützende Egozentrik unweigerlich scheitern. Folgerichtig lautet sein Credo: "Beginne ein ausführliches Gespräch mit dir selbst und versuche, auf die jeweils wichtigste Frage, die du finden kannst, die best begründbare Antwort zu geben." Damit der Gast korrekt mitschreibt, wiederholt er das Ganze und lächelt. Was sonst.
Mit dem Buch "Walden oder Leben in den Wäldern" begründete Henry David Thoreau 1854 den modernen Mythos radikaler gesellschaftlicher Abkehr. Der amerikanische Schriftsteller und "Erfinder" des zivilen Ungehorsams wohnte zweieinhalb Jahre in einer einsamen Blockhütte am Walden-See in Massachusetts. Tagebuchnotizen verarbeitete er später zu einer Bekenntnis-Fibel, deren Klarsicht weiterhin fasziniert: "Die unaufhörliche Aufregung und Sorge vieler Menschen ist eine fast unheilbare Krankheitsform. Wir übertreiben die Wichtigkeit von allem, was wir tun und wie vieles geschieht doch ohne uns."
Öff! Öff! ist zweifelsohne ein Thoreau der Gegenwart. Pausenlos formuliert er Satz-Monumente wie "Ich träume von der gewaltfreien Weltrevolution der Liebe" oder "Wir Schenker wollen schenken, bis alle schenken." Angeblich empfinden achtundneunzig Prozent der Menschen, denen er begegnet, seinen Weg als einen "schönen, aber für sie zu beschwerlichen Traum". Führt er sein grandios befreites Leben womöglich stellvertretend für uns alle?
Einer empirischen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) zufolge beurteilen sich immerhin zehn Prozent der Deutschen als "unglücklich und niedergeschlagen". Siebzehn Prozent klagen über wiederkehrende Ängste und Sorgen. Neun Prozent sind permanent nervös oder aufgeregt.
Seltsamer Einwurf, aber ist ein dermaßen auf Würde und Format fixierter Mensch wie Öff! Öff! zur Niedergeschlagenheit überhaupt fähig? Mit leuchtenden Augen berichtet er von seiner aktuellen Gerechtigkeits-Initiative. Um auf das "von Ausrottung bedrohte Friedensdorf San José de Apartado" in Kolumbien aufmerksam zu machen, unternahm er eine mehrtägige Fasten-Mahnwache vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin. "Weil unsere Freunde den Frieden zur Wurzel ihres Lebensmodells machen wollen und dafür sogar den Märtyrertod hinnehmen", will er die Aktion demnächst wiederholen und schickt an Freunde und Journalisten derweil Rundbriefe. Diese schreibt er übrigens auf einem Laptop und auch ein Mobiltelefon (Sprechzeit täglich 19-20 Uhr) gestattet er sich, "denn der Verzicht auf Kommunikationstechnik sollte bei der Lebensvereinfachung ganz am Ende stehen".
Stichwort Lebensvereinfachung. Nach anderthalb Stunden Referat zeigt Öff! Öff! seine Erdhöhle. Inzwischen ist auch Gefährtin Moni anwesend. Die Einundzwanzigjährige steigt, das fünf Monate alte gemeinsame Kind im Arm, voran in den unmittelbar neben dem Haus ausgehobenen Aussteiger-Bunker. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der Wunsch, sich für den Sonderling zu begeistern. Doch in dieser Schlaf-Grabkammer ist Schluss mit drollig. Wenn der Raum, in dem sich Öff! Öff! allabendlich zur Ruhe legt, ein Beispiel für seine große Alternative sein soll, ist sie definitiv nicht erstrebenswert. Auf der selbst gezimmerten Dreietagen-Pritsche liegen Felle, an der Wand hängt eine stehengebliebene Uhr und es ist nicht etwa urgesunder Erdgeruch, der einem in die Nase sticht. Moni, die über Tage kundtat, dass sie Schutzimpfungen für ihr Baby "generell unsinnig" findet, gesteht, dass sie hier unten nicht schlafen könne. Irgendwo im Bau sei ein Loch, durch das nachts die Ratten hereinkämen. Worauf Öff! Öff! allen Ernstes erwidert, dass man in der Lage sein müsste "auch mit Ratten einvernehmlich zu leben".
Für einen irrwitzigen Moment in diesem muffigen Erdloch wird deutlich, was Öff! Öff! vor allem sein muss: einsam. Moni geht zurück nach oben. Der Freund aller Kreaturen schaut ihr nach und demonstriert dann, wie toll sich das an einer Kette neben dem Bett hängende Holzbrett als Schreibunterlage nutzen lässt.
Nach meinen Recherchen hatte ich als Frau an seiner Seite eigentlich eine Tü! Tü! erwartet. Wie Öff! Öff! nahm auch sie einen Phantasienamen an, "um sich aus der fremdbestimmten Anderswelt zu verabschieden" und begleitete ihn jahrelang auf seinen Pilgerreisen. Öff! Öff! wehrt ab. "Tü! Tü! betreibt ihren Friedensgarten im sächsischen Pommritz." Kurz scheint es, als würde er grinsen. Während der Besichtigung des Schenker-Geländes deutet er ein überraschend reges Geschlechtsleben an. "Das übliche Tellerranddenken lehne ich ab. Ich denke in Sippen- oder Stammeskategorien. Warum sollen bei doppelter Treue nicht mehrere Partnerinnen möglich sein?"
Doppelt verwirrt stehe ich mit ihm in einer Ansammlung mannshoher Staudengewächse. "Das ist Topinambur. Die Pflanze ist frosthart bis minus dreißig Grad und wird von allen Schädlingen gemieden. Ihre Wurzelknollen sind ein Genuss." Misstrauisch koste ich, aber es schmeckt fabelhaft, wie eine Kohlrabi-Kartoffel-Mischung. Öff! Öff!, ganz höflicher Graswurzelrevolutionär, bietet auch Giersch- und Taubnesselblätter an. Kauend besichtigen wir die Wasserpflanzen-Kläranlage, das autonome Hochsitz-WC und eine Menge alter Jurten und Pilgerfahrräder.
Beim Abschiedsfoto an der Erdhöhle spricht Öff! Öff! über Pläne für sein zünftiges Erlöser-Ende: "Wenn bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr nicht die Hälfte der Menschheit vernünftig geworden ist, werde ich ein öffentliches Fasten bis zum Tode durchführen."
Wer exklusiv darüber berichten darf, ist noch offen.
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